Synergien mit der eigenen Lieferdienst-Tochter Durstexpress spielen nur eine Nebenrolle. Oetker-CEO A. Christmann und sein Chefstratege N. Lorenz setzen ein Fanal.
Es ist der größte Deal in der Getränkebranche seit vielen Jahren. Bis zu 800 Millionen Euro steckt die Oetker-Gruppe in den Kauf des Online-Heimdienst-Anbieters Flaschenpost. Die deutsche Start-up-Szene juchzt vor Begeisterung. Dort wurde die Kaufsumme gleich mal auf eine Milliarde aufgerundet, womit die Community sogar ein deutsches „Unicorn“ bejubeln kann, also ein Start-up mit einer Bewertung von über einer Milliarde.
Angetrieben von dem seit 2017 zum CEO ernannten Dr. Albert Christmann und seinem Alter ergo Dr. Niels Lorenz, soll Oetker in eine neue Zukunft aufbrechen: Ungerührt, mitten in der Corona-Krise, von der die Radeberger Gruppe mitsamt ihren GFGH-Töchtern brutal getroffen wird. Geld ist seit dem 3,7 Mrd Euro schweren Verkauf der Schiffssparte üppig vorhanden. Vertrauen der Gesellschafter offenbar auch. So durfte Christmann, der erste familienfremde Gruppenchef, nicht nur eine teure Division in Berlin aufbauen (Oetker Digital), sondern jetzt auch eine riesige Summe in Flaschenpost stecken, ohne dass zu bemessen wäre, wann mit so etwas wie einem ROI zu rechnen ist.
Mit dem Kauf des erst 2014 von Dieter Büchl gegründeten Getränke-E-Commerce-Pioniers (siehe Timeline) setzt Oetker den eingeschlagenen Vertikal-Kurs fort. Leidenschaftlich vorangetrieben wurde der Deal vom vormaligen Radeberger-CEO Lorenz, (der derzeit gesundheitsbedingt kürzer tritt und den Radeberger-Chefsessel im Mai an Guido Mockel abgetreten hat). In Zukunft, so die feste Überzeugung, ist Markenstärke nicht mehr allein entscheidend. Hersteller benötigen den direkten Zugang zum Kunden. Mit Beteiligungen bei Team Beverage und Geva (zusammen mit Coop-Transgourmet), dem Essmann/WGL-Joint Venture DGL (zusammen mit Veltins) und eigenen Akquisitionen von GFGHs wie Lippert-Hof oder zuletzt Pachmayr-München hat Lorenz die Vertikalisierung der Radeberger Gruppe vorangetrieben (allerdings, so zeigt sich jetzt in Corona-Zeiten, auch das Klumpenrisiko erhöht).
Vom Geschäftsmodell der Flaschenpost waren Lorenz und Christmann schon 2016 überzeugt. Aus dem Umfeld von Büchl hieß es, Radeberger habe sich im Herbst 2016 für einen Einstieg interessiert, nach Abgabe einer Geheimhaltungserklärung Einblick in IT und Finanzprognosen der Flaschenpost erhalten und im Anschluss selbst die Kopie Durstexpress hochgezogen. Die bei der Fachhandelstochter Getränke Hoffmann aufgehängte Copy-Cat wurde kräftig gemästet, inzwischen arbeiten 3.000 Mitarbeiter an 15 Standorten in 12 Städten. Der Abstand zum Original Flaschenpost wurde kleiner.
Dennoch griff Oetker nun zu, wollte das große Vorbild selbst übernehmen und nicht in den Händen eines anderen wissen. So soll aus dem Kreis der Kollex-Partner (Coca-Cola EP, Krombacher, Bitburger, Rotkäppchen) ein gemeinsames Angebot formuliert worden sein, aber auch andere strategischen Interessenten aus der Getränkebranche (AB Inbev) sollen in den von Flaschenpost perfekt inszenierten Bieterprozess eingestiegen sein. Am Ende musste Oetker einen exorbitanten Preis bezahlen, einschließlich diverser Earning-Out-Vereinbarungen annähernd 800 Mio Euro.
Viel Geld für eine aktuell knapp 200 Mio Euro Umsatz große Firma, die immer noch Verluste baut. Pro Monat sind es weiterhin 2,5 Mio Euro. Doch Christmann und Lorenz, ging es nicht darum, dass die Berliner Tekkies den vermeintlich stockkonservativen Familienkonzern aus OWL endlich als ernstzunehmende Adresse in ihren Kontaktdaten abspeichern. Es geht um die Transformation der ganzen Gruppe. Und um Flaschenpost als ein Fanal für den Aufbruch.
Zusammen mit dem nach Umsatz halb so großen (und bislang ebensowenig profitablen) Durstexpress bringt es Flaschenpost auf 30 Läger, sogenannte Hubs, in 25 Städten. Oetkers E-Heimdienst ist auf einen Schlag national. In der inzwischen auf über 300 Mitarbeiter angewachsenen Flaschenpost-Zentrale in Münster werden die Userdaten in hocheffiziente Pricing-, Vermarktungs- und Logistikstrategien umgewandelt. Und in eine sehr erfolgreiche Eigenmarkenstrategie. Bei Mineralwasser dreht Flaschenpost zwei Drittel des Volumens mit Aera und Klar, zu stattlichen vier bis fünf Euro/Kiste. Etwaige Nachahmer bräuchten Jahre, um den Vorsprung aufzuholen.
Wie reagieren Edeka und Rewe?
Nach der Genehmigung durch das Kartellamt soll das inzwischen von Hoffmann abgekoppelte Durstexpress-Management, die Geschäftsführer Maximilian Illers, 29 (kam von Oetker Digital), und Maik Ludewig, 45, unter das Flaschenpost-Dach rutschen. An die Seite von CEO Stephen Weich und Kollegen. Fokus bleibt Getränke, Flaschenpost ein Mehrweg-Lieferdienst. An den zwischenzeitlich von Weich begonnenen Vollsortiments-Versuchen (mit Sortiment von Bünting) zeigen die Oetkers laut INSIDERN vorerst wenig Interesse. Aus dem Oetker-Portfolio werden nur Produkte der Radeberger Gruppe über den E-Heimdienst vertrieben.
Das teure Invest in den neuen Kanal ist natürlich auch der Versuch, der Marktmacht des LEH-Oligopols auszuweichen. Edeka, Rewe, Schwarz pressen auch dem Biermarktführer immer höhere Konditionen ab. Mit Vertikalstrategien will Oetker gegenhalten. Die gewonnene Unabhängigkeit dürfte im LEH nicht mit Freude verfolgt werden. Ein INSIDER: „Die wetzen jetzt doch schon die Messer“.
Und so hängt der Erfolg von Christmanns großer Heimdienst-Wette nicht nur von der wachsenden Akzeptanz der Endkunden ab, sondern auch von der Reaktion des Marktes. Bewusst ist diese Gefahr den Oetker-Strategen sehr wohl. Doch der unternehmerische Mut des Familienkonzerns ist größer. Auf neuem Terrain, wusste Niels Lorenz schon auf dem Get.In.-Kongress vor drei Jahren, gibt es keine Sicherheit: „Die legendäre Oetker‘sche Gelinggarantie gilt nur noch für unseren leckeren Pudding, aber längst nicht mehr für unsere Geschäftsmodelle.“
Artikel aus INSIDE 864